Samstag, 5. Juli 2014

Deutscher und Europäischer Menschenrechtsschutz

Die Grund- und Menschenrechte in Deutschland zu schützen haben sich mittlerweile gleich drei Gerichte auf die Fahne geschrieben. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Europäischer Gerichtshof (EuGH) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wollen alle die Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat durchsetzen. Zwar betont das BVerfG immer wieder, dass diese drei Gerichte in einem Kooperationsverhältnis zueinander stehen. Allerdings ist das Verhältnis der drei Gerichte zueinander noch in weiten Teilen ungeklärt. Bereits in der Vergangenheit gab es Konflikte zwischen den beiden europäischen Gerichten einerseits und nationalen Verfassungsgerichten andererseits; und es ist noch genug Stoff für zukünftige Konflikte vorhanden.

Nichtsdestotrotz haben alle drei Gerichte eine starke Stellung in unserem Rechtssystem. Insbesondere der EGMR, früher unmöglich für Bürger auf dem Rechtsweg zu erreichen, gewann in den letzten Jahren enorm an Bedeutung. Durch die seit je her starke Stellung des BVerfG im bundesdeutschen Staat, ist der Konflikt zwischen europäischer Gerichtsbarkeit und nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit besonders intensiv.

Das Verhältnis der drei Gerichte untereinander, insbesondere in Hinsicht auf die Rechtsschutzmöglichkeit für den Einzelnen, soll im Folgenden näher beleuchtet werden.

Einführung: Die drei höchsten Gerichte

Alle drei Gerichte setzen die Erschöpfung des Rechtswegs im regulären Instanzenzug voraus. Im Falle des EGMR setzt das zwingend den Gang vor das Bundesverfassungsgericht voraus.

Das BVerfG, der EGMR und der EuGH sind allesamt keine Superrevisionsinstanzen. Das heißt sie prüfen den Beschwerdegegenstand nicht hinsichtlich aller in Betracht kommenden Rechtsverstöße, sondern nur auf Vereinbarkeit mit bestimmten Grund- oder Menschenrechten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die EMRK

Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet. Lange Zeit war ihre Wirkung äußerst beschränkt. Dies lag vor allem daran, dass der EGMR, der über die Einhaltung der EMRK wachen sollte, kein ständiges Gericht war, kaum Befugnisse hatte und quasi kein Rechtsweg für den normalen Bürger offenstand, der zum EGMR geführt hätte. Der EGMR ist kein Organ der EU. Seine 47 Mitglieder sind identisch mit denen des Europarats. Der Europarat ist eine vergleichsweise lose Organisation der europäischen Staaten, die unabhängig von der EU existiert.

Vertragsstaaten der EMRK

Seit seiner Reform durch das 11. Zusatzprotokoll im Jahr 1998 hat der EGMR enorm an Einfluss dazugewonnen. Er tagt seitdem ganzjährig und ist mit hauptamtlichen Richter besetzt. Vor allem aber verhalf die Einrichtung einer Individualbeschwerde dem EGMR zum Durchbruch. Jeder einzelne Bürger kann gegen eine Verletzung seiner Rechte aus der EMRK durch ein staatliches Organ klagen. Mitglieder des EGMR sind übrigens alle europäischen Staaten außer Weißrussland und dem Vatikan. Mehr als die Hälfte der Verfahren im Jahr 2007 kamen aus Russland, der Türkei, Rumänien und der Ukraine.

Der EGMR ist mittlerweile Opfer seines eigenen Erfolgs geworden. Seit der Aufnahme osteuropäischer Länder Anfang der 90er, der die Einführung der Individualbeschwerde Ende der 90er Jahre folgte, ist der Gerichtshof völlig überlastet.

Beim EGMR kann gegen jedes staatliche Handeln, also Urteile, Verwaltungsakte wie auch Gesetze geklagt werden. Stellt der EGMR die Rechtswidrigkeit eines staatlichen Handelns fest, ist der jeweilige Staat verpflichtet dieses zu korrigieren. Es ist nicht durch das Urteil des EGMR automatisch nichtig.

Auch wenn der Beitritt der EU in Art 6 II S. 1 EUV angekündigt ist, ist die EU selbst kein Mitglied der EMRK. Somit kann ihr Handeln eigentlich nicht an der EMRK gemessen werden. Jedoch begründet der EGMR die Überprüfbarkeit von Unionrecht anhand der EMRK wie folgt:

Jeder einzelne EU-Mitgliedsstaat ist auch Mitgliedsstaat der EMRK. Durch die Übertragung von Hoheitsrechten an die EU kann er sich seinen Verpflichtungen aus der EMRK nicht entledigen. Daher sind die Akte der EU durch den EGMR überprüfbar, sozusagen als Verlängerung des nationalen Rechts.

Der Europäische Gerichtshof

Der EuGH ist der Gerichtshof der Europäischen Union. Er ist das oberste rechtssprechende Organ der EU. Er hat die Aufgabe letztverbindlich über die Auslegung von EU-Recht zu entscheiden. Er tut dies insbesondere im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (d.h. ein nationales Gericht fragt beim EuGH über die richtige Auslegung von europäischem Recht an) oder des Vertragsverletzungsverfahrens gegen ein Mitgleidsstaat. Individuen können vor dem EuGH eine Anfechtungsklage nach Art 263, 264 AEUV erheben, sofern sie durch ein Handeln eines EU Organs unmittelbar betroffen sind.

Das Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht nahm 1951 seine Arbeit auf und ist seither höchster Hüter der
Verfassung im bundesdeutschen Staat. Letztes Jahr waren 207.651 Verfahren am BVerfG anhängig. Es eröffnet sowohl die Möglichkeit Grundrechtsverletzungen durch Gerichtsurteile zu rügen, als auch Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen.

Konflikte zwischen den Gerichten

Der Streit zwischen Bundesverfassungsgericht und EU

Richter des BVerfG - Letztes Wort in Europa?
Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht nach eigenen Angaben der Europaloyalität verpflichtet fühlt, behält es sich trotzdem das letzte Wort vor. Das Bundesverfassungsgericht ist der Meinung auch Entscheidungen der EU, also auch Urteile des EuGH, anhand des GG überprüfen zu können. Zwar stehe das europäische Recht über den nationalen einfachen Gesetzen, nicht aber über dem Grundgesetz. Das Grundgesetz sei die höchste Quelle der Rechtserkenntnis in Deutschland.

Die Rechtssetzungskompetenz ist in bestimmten Bereichen durch die EU-Verträge auf die EU übertragen worden. Die EU kann damit Recht setzen, das nationalen Gesetzen vorgeht. Es kann aber nicht Vorrang gegenüber dem Grundgesetz beanspruchen. Dies ergibt sich bei wortgetreuer Interpretation auch tatsächlich aus Art. 23 I S. 3 GG. Dort ist vorgeschrieben, dass ein Rechtsakt der EU oder mit Bezug auf die EU nur dann das Grundgesetz in seinem Inhalt berühren darf, wenn die Voraussetzungen einer Verfassungsänderung (d. h. zwei-Drittel-Mehrheit im Bundesrat und Buntestag) vorliegen. Daraus lässt sich schließen, dass ein Rechtsakt der EU nicht gegen das GG verstoßen darf – zumindest dann, wenn nicht Bundesrat und Bundestag entsprechend zustimmen. Die beiden deutschen Parlamente stehen somit einerseits unter der EU – und zwar im Hinblick auf die einfachen Gesetze. Andererseits über der EU – in Hinblick auf die Eigenschaft als Verfassungsändernder Gesetzgeber. Nach dieser Logik muss auch das BVerfG als Hüter des Grundgesetzes über der europäischen Gerichtsbarkeit stehen.

Die Richter des EuGH - Die höchsten Richter Europas(?)
Der EuGH ist hingegen der Ansicht, dass es seiner Aufgabe, EU-Recht einheitlich für alle 27
Mitgliedsstaaten zu interpretieren, zuwiderläuft, wenn ein nationales Verfassungsgericht sich vorbehält aus der Reihe zu tanzen. Der EuGH hat deshalb bereits 1964 festgelegt, dass das EU-Recht jeder nationalen Norm vorgeht.

Das BVerfG hat dennoch an seiner Ansicht, Urteile des EuGH notfalls „kippen“ zu können, bisher festgehalten. Allerdings entscheidet das BVerfG meistens EU-freundlich und schließt sich der Meinung EuGH an. Dieses Jahr hat der BVerfG dem EuGH sogar erstmals eine Frage im Rahmen des sogenannten Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt. Es ging um die Frage ob die EZB, ein Organ der EU, zur eigenständigen Wirtschaftspolitik ermächtigt sei.

Überprüfung von EU-Recht anhand des GG durch das BVerfG

Das BVerfG legte in seiner Solange-II-Entscheidung aus dem Jahr 1986 fest, dass eine Überprüfung von Sekundärrechtsakten der EU nicht anhand des GG erfolgt, sondern anhand des europäischen Primärrechts. Dementsprechend kann ein Gericht, das Zweifel an der Rechtmäßigkeit von EU-Sekundärrecht hat, keine Vorlage vor dem BVerfG nach Art. 100 I GG einreichen, sondern muss diese entsprechend dem EuGH zur Prüfung vorlegen. Dies gilt jedoch nur, wenn der EU-Grundrechtsschutz im wesentlichem dem des GG entspricht. Bleibt der EU-Grundrechtsschutz hinter dem Grundrechtsschutz des GG zurück, kann das Gericht dies darlegen und somit erwirken, dass das BVerfG die Vereinbarkeit einer EU-Norm mit dem GG überprüft.

Das BVerfG hat dabei übrigens den deutschen Gesetzgeber auf seiner Seite. Dieser nahm den zentralen Leitsatz der Solange-II-Entscheidung ins Grundgesetz auf. Nach Art. 23 I S. 1GG sind die deutschen Hoheitsträger verpflichtet an der Verwirklichung der EU mitzuwirken – solange diese einen dem GG im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Die Loyalitätspflicht der deutschen Staatsorgane gegenüber der EU endet also an den deutschen Grundrechten.

Verhältnis von EGMR und EuGH

Der EGMR hat den EuGH als höherrangiges Gericht anerkannt. Ähnlich dem Solange-II-Beschluss des BVerfG hält der EMRK eine Klage hinsichtlich europäischen Rechts nur dann für möglich, wenn kein gleichwertiger Schutz vom EuGH erlangt werden kann.

Spannung zwischen EGMR und BVerfG

Latent im Widerspruch steht die Solange-II-Festlegung des Grundgesetzes mit der Vorschrift des Art 46.I EMRK. Danach verpflichten sich die Mitgliedsstaaten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.

Da die EMRK als über den deutschen einfachen Gesetzen stehend anerkannt ist, ist die Anzahl der vorstellbaren Konflikte allerdings auf wenige Fälle beschränkt. Vorstellbar ist, dass EU-Primärrecht gegen das Grundgesetz verstößt, nicht aber gegen die EMRK. Im Moment ist mir nicht bekannt, dass ein solches Verfahren zur Zeit vor einem Gericht anhängig wäre. Dass die Grundrechte aus GG und EMRK direkt miteinander kollidieren ist nur schwer vorstellbar, da sie von ihrer Ausrichtung her zu ähnlich sind. Jedoch könnte die EU-Primärrecht geschaffen werden (zum Beispiel eine politische Zielbestimmung in den EU-Verträgen), das nicht durch EU-Grund- und Menschenrechte verboten ist, aber gegen ein Grundrecht aus dem GG verstößt.

Außerdem ist vorstellbar, dass ein Sekundärrechtsakt der EU gegen das GG aber nicht gegen EU-Grundrechte oder EMRK verstößt. In diesem Fall würde das Bundesverfassungsgericht den Sekundärrechtsakt für in Deutschland nicht gültig erklären.

Für den Fall, dass ein nationales einfaches Gesetz zwar nicht gegen das GG aber gegen EU-Recht verstößt, ist es nach allen Ansichten rechtswidrig.

Situation in anderen Staaten

In Österreich hat die EMRK den gleichen Rang wie die Verfassung. Da Österreich bisher noch keinen selbstständigen Grundrechtskatalog wie das GG hatte, stellt die EMRK damit die Österreichischen Grundrechte dar. Aufgrund der höheren Stellung der EMRK im Vergleich zur Deutschland, stellen sich die hier aufgeworfenen Fragen in Österreich nicht.

In den Niederlanden, Norwegen und Kroatien ist die EMRK sogar als über allen nationalen Gesetzen stehend, also auch der Verfassung, anerkannt.

In Großbritannien ist die Situation wieder anders. Durch den Human Rights Act von 1998 sind alle staatlichen Organe an die EMRK gebunden. Ausgenommen davon ist das Parlament insofern es gesetzgeberisch tätig wird. Das heißt, im Gegensatz zu Deutschland gibt es zwar kein Gericht, das über der EMRK und anderem europäischem Recht steht, dafür kann sich das Parlament über die EMRK hinweg setzen.

Italien ist im Moment das einzige Land, in dem eine mit Deutschland vergleichbare Stellung von EU-Recht und nationalem Recht gegeben ist. In allen anderen Mitgliedsstaaten der EU, inklusive Großbritannien, ist die Verwirklichung des europäischen Rechts als übergeordnetes Recht schon weiter fortgeschritten.

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